Schauspiel-Projekt Kaspar. Vorne links steht eine elegante -Dame mit großem Hut. Sie trägt einen großen Hut und einen goldenen Mantel. Darunter trägt sie ein bunt-schillerndes Kleid. Hinten rechts ein Mann in sonderbarer Körperhaltung mit einem grauen Hut. Er trägt ein weißes Hemd, eine braun-gestreifte Weste und eine ebensolche Hose. Sie zeigt die Figur einer Einsagerin und er den Kaspar.

Dieser Blog ist eine Rückschau auf unser Slow Acting Schauspiel-Projekt: KASPAR nach P. Handke. Wir haben es mit einer letzten Aufführung, Anfang Februar, auf dem Campus Golzheim beendet.

Durch meine assoziative Art zu schreiben enthält dieser Aufsatz Wiederholungen. Er hält sich auch nicht immer an kontinuierliche Zeitabläufe. Zeitsprünge müssten darum akzeptiert werden. Dies ist ein langer, in eine bestimmte Richtung gehender, ausführlicher Blog. Ich empfehle ihn auszudrucken. Dadurch bleibt der Lesefluss besser erhalten. Wie immer freue ich mich auf Rückmeldungen.

Warum ausgerechnet KASPAR?

KASPAR? Das ist doch eine absurde Idee, der ist doch längst überholt. Es gibt doch so viele gute andere Stücke! So äußert sich ein Theatermacher, den ich zufällig in der Stadt treffe. Er weiß nicht, das ich KASPAR am liebsten in einem Zendo zeigen möchte. Auf heiligem Boden. Das macht der geheimnisvolle Satz den KASPAR immerzu wiederholt:

Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist.

Die Einsager

Schauspiel-Projekt Kaspar. Mittig steht eine Frau mit lockigem, kastanienbraunem Haar. Sie trägt ein rosafarbenes Kleid und darunter ist sie grau in einem Murphsuit gekleidet. Sie ist ein Stückchen Kuchen von einem Teller, den sie in der Hand hält. Es ist eine Einsagerin.

Handke will, dass die Wörter der Einsager zu Sprachfoltern für KASPAR werden. Wir streben in eine andere Richtung: Die Einsager selbst gehen sich auf die Nerven. Ohne das es ihnen bewusst ist. Sie halten sich für genial, superklug, für absolut wissend. Ihre Szenen und die von KASPAR werden oft neu und anders erprobt. Sie werden verworfen, erneut aufgebaut, wieder umgestaltet, durchgeschüttelt, bis ihre geistseelische Potenz, für unser Verständnis, verkörpert ist. TheaterLabor!

Tausendfache Stimmen

Die Figuren, ihre Handlungen und Bühnenwege, ihre Körpersprache und die Interaktionen, ihre Mimik und Stimmen, Requisiten, Masken und Kostüme, überzeugen nur wenn sie sich aus unserem gemeinsamen schöpferischen Ensemble-Unbewussten heraus formen. Mit dieser Erfahrung, wir haben sie mehrfach erlebt, gehen wir bewusst um. Denn die Wahrheit des Augenblicks (Augustinus) und seine Verkörperung kommen dann, im Medium einer Bühnenfigur von Selbst auf uns zu.

Symbolisieren die Einsager das unbewusste Kollektiv? Und KASPAR symbolisiert den initiatisch getroffenen Menschen vor seinem Individuationsprozess? In diese Richtung gehen wir jetzt.

Tausendfache Stimmen, Wörter, Richtungen und Meinungen, von Einsagern aller Arten, umgeben uns fast überall.  Intellektuelle Spitzfindigkeiten dringen in uns ein, verhindern den Zugang zum wirklich Wesentlichen. Dabei wird der Zeigefinger der zum Mond zeigt, viel zu oft schon für den Mond gehalten (Zen). Die Ohren können wir nicht verschließen. Offene Pforten sind sie für die vielen, allzu vielen Wörter, Wörter, Wörter, Worthülsen, so viele ohne Substanz. Liegt der Sinn dieser Einsager darin, dass sie uns das leere Geschnatter bewusst machen? In den Nachrichten, auf Kanzeln, in politischen Sendungen, in Hörsälen und Klassenzimmern, an Stammtischen, im privaten Bereich.

Zauber des Geheimnisvollen

Schauspiel-Projekt Kaspar. Vorne links steht eine Frau mit langen weißen und gelockten Haaren. Sie trägt ein buntes Glitzerkleid. Mit Ihren _Händen umfasst sie sanft ihre Brüste. Sie trägt eine Brille und lächelt. Es ist eine Einsagerin.

Fragen wir uns ehrlich genug ob wir uns nicht zu oft bestimmen lassen von Vorurteilen, Unterstellungen, Projektionen, von negativen Nachrichten …? Wir überhören vor lauter Stimmengewirr im innen und außen, unsere eigene innere Stimme allzu häufig. Auf dem inneren Weg zur Selbstwerdung kommt es doch genau darauf an, das wir uns, trotz pausenlosen und rechthabenwollenden Einsagens, vom tiefen Grund des Wortlosen berühren lassen sollten. Dann gibt es die Entzweiung nicht, kein Wenn und Aber, keine Zweifel mehr, wohl aber Einheitserleben. Und darauf haben wir Anspruch.

In manchen Momenten nähern wir uns KASPARs Schicksal, unserem eigenen auch, in tiefer Wahrheit. Der Schöpfergeist selbst hat in diesen Momenten wahrnehmbar, seine Hände im Spiel. Dann sind wir durchlässig. Um es zu bleiben üben wir den Zugang zum Bereich des Wortlosen offen zu halten. Dazu gehört die Abstinenz von logischen, vorschnellen Deutungen. Wir verzichten auf unser eigenes intellektuelles Geschnatter. Eine gute Übung. Alles schon Gewusste und Vorausgedachte, im Hinblick auf das Stück, das über die augenblickliche Probensituation hinausgeht, muss vergessen werden.

Noch nicht erfahren, schon erfahren zu meinen!
Noch nicht begriffen, schon begriffen zu meinen.
Davor solltest du dich hüten, sagt Meister Seami (1663-1443)

Das tun wir.

Auf diese Weise kommen wir dem Wesen von KASPAR, dem der Einsager und unserem eigenen individuellen Wesen näher. Intellektuelle Annäherung an künstlerische Werke sind für mich als Künstler nie fruchtbar gewesen. Zu oft hat es den Zauber des Geheimnisvollen zerstört.

Schauspiel-Projekt Kaspar. Hinten rechts steht ein Mann und hält mit der einen Hand seinen grauen Hut fest. Die andere Hand ballt er zur Faust in Richtung der Figur vorne links. Er zeigt den Kaspar. Vorne links steht eine junge Frau mit weißen Haaren, grauen Oberteil und einem schwarzen Tüllrock. Mit großer Mimik spricht sie stark ihren Text. Es ist eine Einsagerin.

Üben. Üben. Üben

Handke nennt KASPAR ein Drama, das nicht zeigt wie es wirklich ist oder wirklich war, sondern was möglich ist mit jemandem. Auf dieser Spur üben wir improvisierend und fixierend, lösen wieder auf, üben erneut, improvisieren, fixieren, improvisieren um Fixierungen herum, üben, üben, üben. Bis zu dem Moment wo die  Aufführung beginnt, wenn der letzte Zuschauer soeben seinen Platz erreicht hat und darüber hinaus. Szenen dürfen sich in jedem Moment verändern – so wie wir uns ja auch ständig verändern, wenn wir wirklich leben. So bleiben wir im Fluß, der Wahrheit des Augenblicks treu ergeben. Als Dürckheim-Schüler hat für mich und für meine Methode Slow Acting, das Üben, Üben, Üben, mehrfachen Sinn:

Er liegt im Können und der sichtbaren Leistung.
Er liegt im inneren Reifen und Wandeln.
Die Übung, die auf sichtbare und gekonnte Leistung zielt, sie ist im vollendeten Können beendet.
Die Übung, die auf die innere Verwandlung zielt, hört nie auf.

Schauspiel-Projekt Kaspar. Hinten rechts kriecht ein Mann, die Finger in den Boden bohrend, auf allen Vieren. Er trägt einen grauen Hut, ein weißes Hemd, eine braun-gestreifte Weste und eine ebensolche Hose. Er zeigt den Kaspar. Vorne links steht ein junger Mann. Er trägt einen silbrig-grauen Zylinder und graue Joggingkleidung. Er hat einen fast sadistischen Gesichtsausdruck und reibt sich die Hände. Er zeigt einen Einsager.

Zengeist erwacht

Nicht denken, nicht reden, keine intellektuelle Fragen. Wir einigen uns KASPARS Schicksal, sein Handeln und Nicht-Handeln, seine seelische und soziale Situation ausschließlich durch Handeln, Erleben und langsames, ritualisiertes Verkörpern zu erfahren. Wir geben uns Rechenschaft in den Runden die, als Ritual, regelmäßig den Rückmeldungen gewidmet sind.
Eins ist Eins, ein Schuhband ist ein Schuhband, ein Stuhl ist ein Stuhl, ein Schrank ist ein Schrank. Die Logik ist damit zufrieden. KASPAR setzt seinen Satz dagegen: Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist. Dieser Satz und das ganze Stück laden zu einem Besuch ein in den größeren Raum der Wirklichkeit. Darin ist ein Schuhband kein Schuhband, ein Stuhl kein Stuhl, der Schrank ein Nicht-Schrank …, das Schuhband ein Stuhl wenn es auf dem Platz des Stuhles ist …

Teil der Wahrheit

Im Raum irrationaler Wahrheit befinden wir uns während einer Aha-Erfahrung oder in einem unser Ich transzendierendes Erleben, in einem Gefühl für das wir keine Worte finden weil es dafür keine gibt, beim Hören von Musik, beim Erleben eines Sonnenaufganges, in der Stille, im Verliebt sein, während einer Meditation … Die Gefahr solche Momente abzutun, als bloß sentimentale Stimmungen, ist groß.
Doch sind das Momente in denen ein inneres Licht aufleuchet. Es erhellt für einen Augenblick unser Da-Sein. Auch unsere Schatten fallen dann neu und anders. Dann erleben wir wie wahr es ist, das Eins auch Nicht-Eins ist, der Stuhl Nicht-Stuhl, das Ich Nicht-Ich ist. Das Irrationale enthält seine eigene, tiefere Logik die ganzheitlich erfasst.

Der tiefe Sinn von Eins ist Eins wird begriffen durch die Erfahrung, dass Eins Nicht-Eins ist. KASPARs Satz führt uns ins Wachsam-Sein. Eins ist Eins darf nicht zur absoluten Gültigkeit werden. Die übliche Logik kann das Ganze, das Eins auch Zwei ist nicht erfassen. Sie gibt sich mit einem Teil der Wahrheit zufrieden. Die Ganzheitswirklichkeit hat darin keinen Raum. Wir gründen also tiefer um Tatsachen als wahre Tatsachen zu durchschauen.

Auch das Gegenteil einer Wahrheit sollten wir als wahr anerkannen. Dann gewinnen wir das Spiel mit dem Widersacher der Seele (Klages).

Innere Spaltung entsteht durch Auseinander-Setzung. Sie sollte überwunden werden durch die bewusste Handlung des Ineinander-Setzens. Das daraus Erwachsende, als übergegensetzliches Drittes, als neues und noch unbekanntes, kann dann ins Spiel kommen. Es gelingt die Überwindung von Gegensätzen durch die tief lotende Wahrnehmung. Sie ist ein höheres Bewusstsein. Mit Hilfe der goldenen Schlüsselfragen WER WO WAS WIE WARUM durchdringen wir das KASPAR Thema konsequent und physikalisieren es ritualisiert.

Schauspiel-Projekt Kaspar. Hinten links kämpft ein Mann mit einem grauen Bistrostuhl. Er trägt einen grauen Hut, ein weißes Hemd, eine braun-gestreifte Weste und eine ebensolche Hose. Er zeigt den Kaspar. Vorne rechts steht eine Frau mit grauen Haaren, einer großen dunklen Sonnenbrille und trägt grauen Hosenanzug. Sie zeigt energisch mit den Zeigefinder in den Raum nach vorne. Sie zeigt eine Einsagerin.

Schamanen

Ich finde neuen Zugang zu dem Satz: Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist,  bekomme langsam eine auch schamanische Einsicht in KASPARs seelischgeistigen Zustand. Ihr folgen nicht alle im Ensemble. Möglicherweise hole ich wieder mal zu weit und zu tief aus.

Ich stelle mir nämlich vor, dass KASPAR die göttliche Wunde zugefügt wurde. In der Schamanenliteratur wird sie häufig erwähnt. Auch in manchen Coachings habe ich wahrgenommen, dass manche von ihr (aus-)gezeichnet sind. Wem solches Gezeichnet-Seins widerfährt, das lehrt die Geschichte vieler Schamanen*innen, dem wird die Gabe des schamanischen Heilwissens mitgegeben. Mit Hilfe der Kunst könnte sie von so Gezeichneten seelenheilkundig eingesetzt werden. Denn immer waren und sind die echten Schamanen Künstler. Auch die Werke von Tapies‘ z.B: verweisen auf den Künstler als Schamane. Für ihn hat die Kunst unbedingt rituellen Charakter. Eine transzendentale Spiel-Ästhetik, die anjocht (Yoga) ist an ritualisierter Gestaltung hat bei uns hervorragende Bedeutung.

Öffnung zu Transzendenz und Inspiration

Manche, also die traumatisiert genannt werden sind, in einer tieferen Wahrheit, von transpersonalen Kräften Initiierte, von der göttlichen Wunde gezeichnet, meistens ohne es zu wissen. Auch Wegbegleitern ist die Möglichkeit solchen geistseelischen Tatbestandes unbewusst. Sie führen den Ursprung einer Traumatisierung einseitig und rational fest-stellend, nur auf Situationen der persönlichen Biografie zurück. Wenn jedoch transpersonale Mächte und Kräfte die Initiation mitbewirkten ist diese Feststellung kontrainduziert. Ein ritueller künstlerisch-spielerischer Umgang in transpersonalem Setting, um die Verletzung herum, ist dann angesagt. Vielleicht meint Handke das mit seiner Empfehlung:

Womit du nicht fertig wirst, damit solltest du spielen

Ganz schließt sich eine göttliche Wunde nie. Sie bleibt als Öffnung zur Transzendenz und Inspiration zeitlebens bestehen. Aber ist KASPAR überhaupt ein Initiierter der an der göttlichen Wunde leidet? Wenn ja stirbt er gerade den mystischen Tod. Seine Biografie, sein Erinnern, sein gesamtes Leben ist in einem dunklen Abgrund verschwunden. Er musste es verlieren um ein neuer Mensch zu werden. Nun, ein noch Nicht-Neu-Gewordener, ein Nicht-Ich, im Prozess von Krise und Wandlung, Stirb und Werde. Die Bibel weiß davon weil geschrieben ist:

…wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen Lukas 9: 24.

Schauspiel-Projekt Kaspar. Vorne links und rechts stehen zwei Figuren in leuchtende Folienmäntel gekleidet. Sie zeigen zwei Einsager. Hinten in der Mitte steht ein Mann in sonderbarer Körperhaltung mit einem grauen Hut. Er trägt ein weißes Hemd, eine braun-gestreifte Weste und eine ebensolche Hose. Er zeigt den Kaspar.

Meinetwegen! Ist damit das eigene Selbst gemeint?
Die Einsager verhöhnen, quälen KASPAR mit mahnenden kruden, unverdaulichen Behauptungen. Ist er schon soweit, das er, durch die Wörter hindurch, auf das Wortlose und Sinnvolle hinter den Wörtern horchen kann?

Du stehst. Der Tisch steht. Der Tisch steht nicht, er ist gestellt worden. Der Raum ist klein, aber mein. Der Schemel ist niedrig, aber bequem. Ein Satz hilft dir, über jeden anderen Satz hinwegzukommen, indem er sich an die Stelle des anderen Satzes setzen lässt: die Tür hat zwei Seiten: die Wahrheit hat zwei Seiten: hätte die Tür drei Seiten, hätte die Wahrheit drei Seiten: die Tür hat viele Seiten: die Wahrheit hat viele Seiten: die Tür: die Wahrheit: ohne Tür keine Wahrheit …

Seine sich wandelnde Seele

KASPAR sollte nicht hinhören, nicht mehr reagieren auf die Wortbomben der so überklugen und überheblichen Einsager. Wir kennen alle ähnlich schmerzhafte, frustrierende Situationen wo wir statt echter Zuwendung, Weisheit und Wärme, lediglich konventionelles blablabla, Unterstellungen und Behauptungen zu hören bekamen. KASPAR setzt seinen Satz dagegen. Er klingt nach Beschwörung, nach Gebet, nach Verzweiflung, nach fürchterlichem Aufschrei. Er wiederholt ihn weinend, auch verwundert. Ein Ritualsatz? Das erinnert an das Ritual der Ruminatio:  wiederkäuendes Sprechen heiliger Worte. Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist. Magisches Denken und Handeln wird heute belächelt, wird oft als klinisches Verhalten abgewertet und für rückschrittlich gehalten. Integrierte Magie aber dient dem Fortschritt! Ohne sie gerät die Menschheit in Gefahr zu verflachen und zu verdummen. Allerdings muss Umgang mit ihr ein bewusster und reflektierter sein.

… der Mensch der Zukunft, wird ein mystischer Mensch SEIN oder er wird nicht mehr sein.

KASPAR sagt seinen Satz. Langsam wird er von anderen Worten zerstückelt, abgelöst. Ein Mensch, zum Schamanentum erwählt auf seinem Initiationsweg, erlebt auch Zerstückelung. Sie gehört dazu. Er gerät in Zustände die Psychosen gleichen, wird ent-setzt. Die wissenschaftliche Schamanenforschung weiß davon zu berichten. In zahllosen Improvisationen und Rollenspielen erfahren wir, das KASPARs Sprachverwirrung, sein Zustand der Auflösung nicht sinnlos ist. Im Gegenteil ist sie Sprache seiner sich wandelnden Seele zu möglicher Heilung hin.

Die andere Dimension

Schauspiel-Projekt Kaspar. Ein Mann liebkost einem grauen Bistrostuhl. Er trägt einen grauen Hut, ein weißes Hemd, eine braun-gestreifte Weste und eine ebensolche Hose. Es ist Kaspar

Durch Langsamkeit und Stopps, durch kontemplative Konzentration in vielen Bewegungsabläufen und Gebärden, im zeit- und raumschöpfenden Innehalten und Wahrnehmen, durch ritualisiertes Atmen und Sprechen, durch die Integration von Stille und Innehalten, zelebrieren wir Ausdrucksrituale um die Figur KASPAR herum. Im stimmigen Ausdrucksritual kann ein Mikrokosmos erlebt werden der, mit Leib und Seele spürbar, das ganze Universum enthält. Es stellt sich die Frage ob die Zuschauer von unserem Forschen und Erleben überhaupt einen Schimmer mitbekommen? Darauf sind wir neugierig, das zu erfahren.

Der Weg unserer Proben ist auch anstrengend, aufreibend, aufwühlend. Ich falle mindestens zweimal aus meiner Rolle, reagiere unprofessionell empfindlich, überzogen. Doch nicht nur ich.
Das ganze Thema erleben wir als grenzwertig. Der Slow Acting Weg erweist sich als tragfähig, belastbar und begehbar. Über unsere Neurosen hinaus können wir uns stets freundschaftlich die Hände reichen. Dieser Satz fällt irgendwann. Er ist erleichternt wärend einer Klärung.

Bühnenraum vergrößert sich

Die Atmosphäre ins Größere hinein erlebe ich mit diesem Ensemble intensiv. In ritualisierten Begegnungen, in Stopp und Stille, durch ritualisierte Rückmeldungen verflüchtigen sich allzu individualistische, launisch-private Bedürfnisse, Forderungen, Probleme, Bewertungen und das Schöpferische auflösende Vorgedachte, die ätzenden Fragen aus unverarbeiteter Angst und Unsicherheit. An ihrer Stelle erscheint das Individuelle jeden Actors immer mehr in überraschender Reinheit und Klarheit. Unser Weg geht zum Künstlerisch-Heilsamen hin. Die Freude an dieser Entwicklung, wir gingen auch durch Dunkles und Chaotisches hindurch, teilen wir alle miteinander.

Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist. Ist dieser Andere also ein Vorbild aus der früheren Außenwelt KASPARS? Oder ist das ihm eingeborene Inbild gemeint, nach dessen Verwirklichung er sich sehnt und darum immerzu anruft? Fragen sollen nach wie vor nicht vom Kopf beantwortet werden. Wir halten uns an Morenos Zusammenfassung: Die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründen. Das Ergründete wird anschließend in Körpersprache gezeigt.

Zeige es mir, sagen die Zen Meister, rede nicht, sei ohne Wörter!

Ahnen kommt auf von jener Wahrheit die mit Worten nicht wieder zu geben ist. So gewinnen wir inneren Raum. Auch der Bühnenraum vergrößert sich dadurch. Nun wird es uns deutlich: In ihm darf nur KASPAR Sein. Der Bühnenraum wird zum Lebens- und Entfaltungsraum. Die Einsager agieren auf Nebenbühnen. Zu Raum wird hier die Zeit.

Soweit sind wir gekommen

Schauspiel-Projekt Kaspar. Eine junge Frau mit lachendem Gesichtsausdruck. Sie hat eine auberginefarbene Frisur uns ist grau/schwarz gekleidet. Sie zeigt eine Einsagerin.

Unter der Devise: So weit sind wir gekommen werden wir das Drama KASPAR zeigen. Es ist wie alle unsere Aufführungen, vorläufiges Arbeitsergebnis. Wir zeigen es außerdem in Raten. Dabei geht es uns nie um die Erfüllung literarischer Konzepte. Wir Selbst sind das Konzept mit unseren Erfahrungen, Assoziationen, mit unseren Wahrnehmungen. Diese Vorgehensweise spielt eine wesentliche Rolle in der Ensemble Arbeit. Darum erscheint jede Aufführung aus anderen Blickwinkeln.

KASPAR, ein Zen-Theaterstück?

Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist. Ein Satz wie ein Koan. Von ihm wird erwartet, dass der Zen-Schüler, allein durch Wahrnehmung, die Lösung findet. Verstandesmäßige Lösungen sind ungültig. Denn der Sinn eines Koan erschließt sich nur intuitiv, ohne Logik, ohne Worte.
Zen- und die Koan-Praxis meint sich der Erkenntnis der Nicht-Zweiheit zu öffnen. Denn es scheint eine Illusion zu sein, dass Dinge sich unterscheiden. Auch das Ich hat demnach keine eigene abgegrenzte Existenz. Diese Erfahrung, die oft von heftigen, auch erleuchtenden und bewusstseinserweiternden Erschütterungen begleitet wird, soll durch die Meditation eines Koan ausgelöst werden. Was bedeutet nun für KASPAR und für uns sein mutmaßliches Koan: ich möchte einer sein wie ein anderer gewesen ist?

Während der Proben versuchen wir weiterhin intuitiv an den Sinn dieses Satzes zu kommen. Logische Ergebnisse werden aufmerksam verworfen, Amplifikationen und Assoziationen sind zugelassen. Manche führen uns in unsere und in KASPARS Kindheit, zu Mythos und Mystik. Ich begreife den Satz auch so:

Ich möchte der SEIN, der ich war, bevor ich geworden bin.

Geduld und Ausdrucksfreude

Ob Handke für KASPAR die Möglichkeit von Initiation, Erlösung und Transzendenz vorgesehen, uns aber verschwiegen hat? Führt uns Handke hinters Licht und will unseren Geist auf seinen Hintergrund prüfen? So tun es die Zen-Meister wenn sie dem Schüler ein Koan aufgeben.

Wer ist KASPAR, was ist ihm geschehen, wo und wie beginnt seine Biografie? Viele Fragen aktivieren unzählige Szenen. Sie beanspruchen unsere seelischgeistige und leibkörperliche Detektivenergie ganz. Manchmal geht es nur um die Ergründung ob wir KASPAR und seinen Zustand selbst schon irgendwie erlebt haben. Den Bezug zur eigenen persönlichen Situation zu erkennen ist ebenfalls eine wichtige Stufe in der Slow Acting Weiterbildung im Schauspiel, als Weg verstanden. Das Ensemble geht mit in viele Suchrichtungen, neugierig und eigenschöpferisch, mit Geduld und Ausdrucksfreude.

Manche Müdigkeit, Misslichkeit und Zweifel, manche Ungeduld und Zwiespältigkeit werden durch die sich ständig erweiternden Erfahrungen, durch die sich immer tiefer ergebenden Gestaltungen, transzendiert. Rationale Nachvollziehbarkeit wird unwichtig in dem Maße wie wir uns auf unsere Wahrnehmung besinnen.

Der Sinn des Sinnlosen
Das Ur-Gemeinsame ist nur dem Einsamen bewusst (Herakles)

Der Stopp gibt dafür Raum

Ist KASPAR ein solcher Einsamer? Bei der letzten Aufführung scheint seine Wandlung möglich. Während einer  Improvisation überschreitet ein kindliches Wesen die Schwelle. Es geht auf KASPAR zu, erreicht ihn in seiner Sphäre autistischer Einsamkeit. Vor dem kindlichen Wesen hat, außer KASPAR, niemand die große Bühne bisher betreten. Sie war einsamer, menschenleerer, in die Ewigkeit führender Raum. Das kindliche Wesen, gemeint als Archetyp, bekommt Zugang. Es darf KASPAR in seiner Verwundung berühren. Es spricht sogar die letzten Worte die Handke dem KASPAR zugeschrieben hat. Er findet durch das kindliche Wesen in sein unverletztes Inne-Sein. Nun taut er auf wie Eis, dass die Sonne zum Schmelzen bringt. Er hört durch das Kind Worte seines eigenen Inneren von außen und  öffnet sich ihm und der Außenwelt. Das Kind lädt zum Spielen ein. KASPAR entwächst langsam seiner Versunkenheit. Spielerischer, dialogischer Kontakt darf sich ergeben. Spielerisch erkennen beide ihre Einheit. KASPAR und Kind:  befreites Lachen und Leben. KASPAR findet zurück in ein sein anderes Leben.

Schauspiel-Projekt Kaspar. Links eine kindliche Figur mit dem gleichen Hut wie Kaspar. Rechts steht Kaspar. Die kindliche Figur wirft dem Kaspar einen Apfel im großen Bogen zu. Man sieht den fliegenden Apfel.

Das Kind jongliert mit Äpfeln, KASPAR spiegelt seine Bewegungen. Das Kind wirft KASPAR einen Apfel zu. Er fängt ihn geschickt auf. Ja, er ist wach. Die Dunkelheit des Vergessens zieht sich von ihm zurück. Vital beißen beide in einen Apfel, kauen ihn in animalischer Weise. In einem Stopp gerinnt die Zeit.Sie zwingt ins Jetzt. Während sie so dastehen, den Apfel zwischen den Zähnen, ohne geringste Bewegung, ohne Wimpernschlag. Da erfüllt die Arie Lascia ch’io pianga aus der Oper Rinaldo von Händel den Raum. Vier Minuten lang. KASPAR und das Kind bewegen sich in keinem Moment. Als Zuschauer läuft vor meinem inneren Auge das gesamte Bühnengeschehen noch einmal tief empfunden ab. Der Stopp gibt Raum. Szenen meines eigenen KASPAR-Seins fallen mir ein, rühren mich.

Kurz vor Beendigung der Arie beißen beide noch einmal kräftig in den Apfel. Schmatzend und lachend, Hand in Hand, verlassen sie die Bühne. Langsam sich steigender Applaus, vereinzelnde Bravorufe.

Schauspiel-Projekt Kaspar. Links eine kindliche Figur mit dem gleichen Hut wie Kaspar. Rechts steht Kaspar. Bei beißen genüsslich in einen Apfel

Zuschauer

Später erfahre ich von einigen Zuschauern.

Die Erlösung von Kaspar ist angekommen; seine Wandlung war zu sehen und zu spüren.

Was für eine Freude!

Erschöpft von den vielen Wörtern, scheinbar ohne Zusammenhang und durch die ständigen Ermahnungen der Einsager:

Ein Schuhband ist kein Stuhl und ein Tisch kein Schrank, der Schrank ist ein Stuhl, wenn er an der Stelle des Stuhles steht,

haben einige Zuschauer ihren intellektuellen Anspruch den Text zu begreifen, manche nicht ohne Ärger, aufgegeben und einfach nicht mehr hingehört. Andere sind gleich ihrer Wahrnehmung gefolgt und haben ihre Assoziationen passieren lassen. Wer hat nun wirklich Zugang gefunden zur absurden und aktuellen Wahrheit dieses Theaterstücks?

Tief berührt; atemlos geworden durch die Leistung des Ensembles; begeistert; sprachlos; beeindruckt,

so lauten andere Rückmeldungen der Zuschauer. Manche nennen die Aufführung:

gewöhnungsbedürftig; herausfordernd; ungewöhnlich; unverständlich.

Ich bin zufrieden mit unserem Theaterexperiment und seinen Actors. Das Ensemble zeigt sich professionell. In künstlerischer und persönlicher Hinsicht. Die Trennung von dem Ensemble, da eine weitere Aufführung nicht geplant ist, schmerzt nicht. Denn alle besuchen den Schauspielunterricht weiter. Der Zusammenhalt, wenn auch in anderer Weise, bleibt erhalten.

Kostüm und Maske

Schauspiel-Projekt Kaspar. Ein Mann steht auf der Bühne, links von ihm ein grauer Bistrostuhl. Er trägt einen grauen Hut, ein weißes Hemd, eine braun-gestreifte Weste und eine ebensolche Hose. Mit seinen Händen zeigt er eine Art Bittgebärde. Er schaut neugierig in den Raum. Es ist Kaspar

Gianni Sarto, Kostüm- und Maskenbildner, hat KASPAR wie einen Comic-Helden geschminkt. Zu seinem erdfarbenen Kostüm trägt er ein blütenweißes Hemd. Im Kontrast zu seiner Haltung und Gehweise, zeigt seine Kleidung ein vitales Bild. Als elegante Note hat sein Hemd Umschlagmanschetten und silberne Manschettenknöpfe, gutes Schuhwerk. Seine Erscheinung zeigt bewusst keine mitleidserregende Figur.

Einsager sind keine Menschen, sondern Stimmen, Gedanken, das innere ständige Einsagen. Sie tragen einheitlich graue Murphsuits. Sie bedecken den ganzen Körper grau bis auf das Gesicht. Alle sind gleich geschminkt, gleicher Grundton, gleicher Lippenstift, stilisierte Augenbrauen. Stilisiert ist auch ihre Garderobe, Perücken und Hüte, angenähert an soziale Rollen. Z.B.: Lehrerin, Gräfin, Priester, Mutter, Professorin, Schwester, Jugendlicher und jugendliche Rapper. Gianni’s Idee ist, die Figuren austauschbar zu gestalten: Es sind keine individuellen Menschen. Darum der gleiche graue Grundton, darüber die Alltagskleidung ohne private Individualität.

Kreatives Klima

Für die schöpferische Mitarbeit bedanke ich mich bei Gianni.
Und bei den Actors: Belgin Akbaba, Doris Horn, Dinah Köhler, Sigrid Loose-Abendroth, Peter Schreck, Marcel Wannieck. Mein Danke geht an Marc Dauenhauer für Videoaufzeichnung und Schnitt, an Urban Wynen für seine umsichtige handwerkliche Kunst, an Tobias Wester für den Gästeempfang und an Jasmin für die Bewirtung. An Gabriela Dierkes geht mein Dank für die Applaus-Tulpen.

Mit einem anderen Ensemble werden wir uns Anfang März mit einem Nô-Spiel beschäftigen: Kantan no Makura. Es wurde von Meister Seami um 1400 geschrieben. Darauf freue ich mich sehr.

Düsseldorf. 03.03. 2019

Schauspiel-Projekt Kaspar: Das achtköpfige Ensemble nimmt auf der Bühne den großen Applaus entgegen.