Nun geht es in die dritte und letzte Phase meiner Erzählung: Schauspiel-Projekt: Wandlung21. Es werden sicher wieder viele Seiten zusammenkommen. Und in manchen Abschnitten werde ich wohl wieder abschweifen und mich anderen Themen, auch diese erklärend, zuwenden. Doch hat immer alles mit meiner Methode Slow Acting-Schauspiel zu tun.
Auf jeden Fall freue ich mich, dass Du mir bis hierhin gefolgt bist.

Seelische Vorgänge zeichenhaft verkörpern

Auf Schlichtheit und auf konsequente Verfremdung für die Spiel- und Ausdrucksweise zu Wandlung21, haben wir uns zu Beginn unserer Proben geeinigt. Auf ihre Darstellung, vielleicht in mehreren Aufführungen, freue ich mich. Ich weiß, dass sie sich lohnt im Hinblick auf die künstlerische und auf die persönliche Erfahrung und Entwicklung. Auf jeden Fall soll das private Körperbild auf der Bühne nicht gezeigt werden, zugunsten eines überpersönlichen Ausdrucks.

Meine Ausdrucksschulung ist auf Transzendenz bezogen

Meine Slow Acting-Ausdrucksschulung, nicht nur für Wandlung21, führt in Bereiche die seelisch geistige Gegenwärtigkeit im LeibKörper fordert. Sie verlangt auch Deine Sehnsucht nach Magie und Charisma. Aber ist das noch Schauspiel, werde ich gefragt ?
Mir fällt als Antwort eine Begegnung mit Ravi Shanka ein. Ein indischer Meister, auf dem Zupfinstrument Sitar. Er besucht Graf Dürckheim und unser Rütte-Team im nördlichen Hochschwarzwald. Einmal war er Zuschauer, bei einer extrem langsam ausgeführten Performance von mir, mit dem Thema: Ich und das Andere.

An jenem Abend im Foyer des Berghauses bewegten und sprachen einige Mitwirkende so, als wären sie in Trance. Wir zeigten eine Improvisation psychodynamischer Übungen. Tatsächlich hatten manche wohl schamanischen Charakter. Erworben haben wir sie in gemeinsam trainierten Imaginationen und Verkörperungen.
Schon während des Trainings ist mir aufgefallen, dass einige meiner Schüler / Schülerinnen trancehafte Zustände zeigten. Wir haben darüber gesprochen. Trance und Ekstase gehören doch seit alters her zur Bühne, das war uns allen klar. Darum beschließen wir tranceartige Momente, wenn sie sich ergeben bei der Performance, zuzulassen und abzuwarten WAS sich WIE aus ihnen entwickeln wird.
Beim Abendessen, gleich nach unserer Improvisation, erzählt Ravi, dass ein Freund von ihm, ein indischer Schauspieler, seine Kunst als höchstes Mittel betrachtet: um des universellen Seins teilhaftig zu werden. Immer noch gibt es in Indien viele Schauspieler, die sich in ihrer Kunst darin üben, die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens zugunsten einer höheren Wirklichkeit zu überschreiten. Diese Bestrebung habe ich in Euren Performances deutlich wahrgenommen. Ich wünsche Euch, dass Ihr den Mut habt auf diesem Weg weiterzugehen.
Ich erlebe meinen Weg bestätigt.

Zurück zum Projekt Wandlung21

Wandlung21 soll der Anfang einer Reihe ähnlicher Projekte sein. Ich wünsche mir, das Martin und Nikolai dabei bleiben können. Ich weiß, meine Forderungen in Richtung transpersonaler Ausdrucksschulung stellen hohe Anforderungen an die beiden Spieler. Außerdem soll sie die Einbildungskraft auch beim Publikum fördern. Z. B. durch unsere minimalistische Ausdrucksweise, durch langsame Bewegungsabläufe und Verzögerung von spontanen Impulsen. Ritualisierte Spontaneität nenne ich dieses künstlerische Verhalten. Das Publikum könnte das, was wir andeuten, mit ihrer Imagination vervollständigen und sich so ins Bühnengeschehen mit hineingenommen erleben. Für mich würde sich so Bühnenwirklichkeit noch mehr erfüllen.

Soweit sind wir gekommen

Wenn es so weit ist, zeigen wir in einer Aufführung, WAS, WIE, sinnenhaftes Fleisch geworden ist, also Gestalt bekommen hat. Das Datum steht für sie noch nicht fest.
Nikolai bemängelt schon wieder, dass es überhaupt keine Regie gibt.
Das stimmt.

Ein hoher Anspruch

Ich will Regie nicht im üblichen Sinn führen.
Den Dialog brauche ich mit Martin und Nikolai den Spielern, mit Gianni als Kostüm- und Maskenbildner, mit Antje als Scheinwerferin, mit Sigrid als Chronistin und Doris als Dramaturgin.

Nur der gelingende Dialog aller Beteiligten mit mir, zwischen ihrem Unbewussten und meiner Bewusstheit, zwischen meinem Unbewussten und ihrer Bewusstheit lässt ein Stück wachsen, und seine Szenen, Figuren, Spiel- und Sprechweisen.
Wesentlich ist der Dialog mit dem Geheimen Regisseur. Mehr zu diesem transzendenten Thema demnächst an anderer Stelle.

Wir sind mit den Proben im Zustand der Schwebe.
Er ist so von mir gewünscht, wird jedoch nicht von allen akzeptiert.
So aber tickt das Schöpferische! Es muss in der Schwebe gehalten bleiben, bis es von selbst den Bodenkontakt sucht.
Wir schweben auf das unbekannte Ziel zu, durch Nicht-Wollen und Nicht-Machen, durch Zulassen und Geschehenlassen. Aus dieser Haltung kommen die wirklich zielführenden Impulse.
Wandlung21. Ein Schauspiel – Experiment. Mehr nicht!

Surrealität

Als Blinder erlebe ich mich manchmal, der Blinde führt.
Um das Stimmige für einen Ausdruck, einer Szene nicht zu verfehlen, trainieren wir die Wahrnehmung, aus der sich der körperliche und stimmliche Ausdruck gestaltet. Wahrnehmung ist der Sur-Realität nah und diese ist wirklicher als die logische Realität.
Die Zuschauer und Zuschauerinnen sollen das Surreale in situ miterleben, während die Spieler auf der Bühne von einem übergeordneten Gestaltprinzip gefunden werden.

Texte

Wir haben nur noch kleinste Reste vom Text. Ein Teil ist von Goethe und einer von Musil. Nun soll die Reihenfolge dieser Texte, sich auch noch aus Zufällen zusammensetzen! Wir haben uns darauf eingelassen und wegen der Unmöglichkeit, diese Textschnippsel zu physikalisieren auch geschimpft und gestöhnt. Nun fangen wir wieder an, improvisieren was das Zeug hält, wieder und wieder.
Das will doch kein Mensch sehen, was ihr da macht / Die Leute rennen raus / Das hat doch alles viel zu wenig Handlung / Das ist doch alles viel zu streng / Viel zu langweilig…/. Das sind immer wieder aufkommende Stimmen aus den eigenen Reihen.
Und doch, überraschend werden Persönlichkeitsanteile der Spieler sichtbar, erscheinen, kommen ins Spiel, werden zu Bühnenfiguren. Ich staune, wie es geschieht, staune, das und WIE die Spieler sie zulassen. Alles wird nun so farbig und spannend:

Martin, Figur A, vorsichtig und zart, enthüllt seine innere mädchenhafte Geliebte.
Nikolai Figur B, zeigt einen inneren Anteil, den Macho, hart und wollend.

Persönliches und Universales reichen sich die Hände

Zur Erinnerung:
Die Geliebte erhebt am Ende des ersten Bildes ihre Stimme, als der Macho sie verlässt: So nicht! Und tatsächlich, der Macho, wahrscheinlich berührt von der Art und Weise, WIE sie spricht und sich gebärdet, kommt zurück. Beide reichen sich unendlich langsam die Hände zum Abschied. Der ist endgültig. Das spüren wir alle. Still wird es im Raum, berührt sind wir auch von eigenen persönlichen Erinnerungen tragischer Abschiede. Persönliches und Universales reichen sich die Hände. Eine starke Szene, das Traumgesicht erscheint.

 

Der Kreis-Weg

Vom Kreis-Weg in Wandlung21 habe ich noch nicht erzählt.
Im Kreis gehen, in kontemplativer Konzentration, zentriert Spieler und Zuschauer. Das habe ich oft erfahren. Der Kreis, ein mit dynamischer Energie geladenes Symbol, älter als die Menschheit. Er kann archetypische Bereiche in uns ansprechen, kann das schöpferische Unbewusste aktivieren. Seit Urzeiten wird dem Kreis in Religionen und alten Kulturen Ausdruck gegeben. Martin und Nikolai gehen auf einer imaginierten Kreisbahn als Figur A und Figur B. Sie gehen synchron, atemrhythmisch ritualisiert. Sie zeigen auf dem Kreisweg gebärdenhaften Ausdruck universaler Emotionen:

Freude, Überraschung, Hass Angst, Wut, Hoffnung Enttäuschung, Ekel, Trauer. Verachtung. Scham. Diese starken seelischen Befindlichkeiten werden im Moment erinnert. Sie sind nicht festgelegt. Immer wieder muss ich daran erinnern, dass es um Darstellung geht, nicht um die Identifikation mit diesen seelischen Befindlichkeiten.

Noch korrigiere ich, unterstütze, bestätige durch Zurufe.
Die Spieler zeigen die Emotionen im gebärdenhaften Ausdruck individuell, vom Körper bestimmt. Von Situation zu Situation, wird er von extremen Stimmfärbungen begleitet. Laute, Wörter und Sätze, werden zigfach wiederholt.
Der zerstückelte, fast unkenntlich verfremdete Text bekommt nun eigenen Sinn, durch enthemmte, mimische und körperliche Ausdruckskraft. Mit freudiger Spannung sehe ich wie Martin und Nikolai mit den inzwischen akzeptierten Stilmitteln, und dem kommen- und entstehen-Lassen ihrer Bühnenfiguren experimentieren.
Chapeau!

Ein universaler Moment, auf dem universalen Weg

A und B gehen, ein Jeder auf eigenem Kreis-Weg.
Manchmal dehnt er sich bis in den Zuschauerraum aus.
In den unterschiedlichen, bizarr mutigen, immer authentischer werdenden Körperhaltungen und Gebärden nähern und entfernen sich die Spieler fast rhythmisch, als A und B.
Das Spielzeremoniell wird rund.
Antje gibt Licht, den schwerfällig und dunkel wirkenden Szenen, frischt sie auf durch wechselnde Lichtstärken und Farben. Doris und Sigrid geben weiterführende Rückmeldungen. Wir sind ein guter Kreis.
Am Ende der ersten Szene verlassen A+B ihren Kreisweg und setzen ihr Leben auf getrennten Weg fort. Diese Szene ist so rein wie Bergkristall, trotz der endgültigen Stimmung.

Während Du sprichst, wirst Du

Nun geht es in die letzte Szene. Sie beginnt mit erneuter Suche nach stimmiger, atemrhythmischer Sprechmelodie und authentischem Stimmklang. Ihn kann man nicht wollen. Er stellt sich ein, wenn wir die entsprechenden Bedingungen schaffen. Dann wirkt das individuelle Timbre belebend, weil es spürbar und hörbar ist. Die personale Wesenssubstanz tönt hindurch.
Fühle es, so oft wie möglich.
Dein Selbstwert-Erleben wird auf diese Weise aktiviert und gefördert. Darum empfehle ich jetzt vor allem wieder auf die Mitte-Atmung zu achten, die vom Zwerchfell bestimmt wird. Das Zwerchfell gebiert das Wort, so heißt es im traditionellen griechischen Theater, auch: der Sitz der Seele ist das Zwerchfell.
Ich empfehle jeden Satz, in seinem Rhythmus, auch einzelne Wörter, zigfach, zu wiederholen.

Auch während der Aufführungen sollte auf die Methode der Wiederholung nicht verzichtet werden. Die uns zuschauen und zuhören, sollen konkret miterleben wie ein Spieler als Person und als Figur, immer wieder die Suche nach der Stimmigkeit vollzieht und darin nicht nachlässt, bis sie da ist. Jedes Mal, wenn der besondere Stimmklang einer Wesensstimme im Raum schwebt, ist es ein Geschenk der Gnade.

Die grüne Schärpe

Als die Figur A diese kleine grüne Schärpe auf ihre Schultern drapiert, gelingt uns allen die Imagination, dass sie jetzt ein langes Abendkleid trägt. A wird zu einer androgynen Figur. Eine gelungene Kostümidee von Gianni.

Bei einer Nachbesprechung ist dieses Zitat von Jesus, aus dem Thomas-Evangelium plötzlich da:

„Wenn Ihr die Zwei zu Einem macht und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht und das Äußere wie das Innere und das Obere wie das Untere und wenn Ihr das Männliche und das Weibliche zu einem Einzigen macht, damit das Männliche nicht männlich ist, das Weibliche nicht weiblich ist… dann werdet ihr in das Königreich eingehen“.

Die Androgynität, die A physikalisiert und lebt, geschieht durch nicht vollständig vollzogene Identifizierung. Sie ist zeigende, und gelebte Darstellung. A zeigt die Sehnsucht geliebt zu werden. Doch ist A nicht imstande Liebe zu geben. Wie sollte das gelingen, bei der Traumatisierung, die wir nach und nach erkennen?
A klärt uns auf, eindringlich, manchmal nicht ohne Komik, wenn es theatralisch wird. A tut das in immer neuen emotionalen Variationen, wenn sie sagt:

Schon als kleines Kind haben sie mich alle geküsst, diese Mütter, Kinderfrauen, Schwestern, Freundinnen, Freunde, alle, alle, alle haben sie mich immer geküsst, bah.

Die hilflose Verzweiflung an diese Erinnerungen, die tiefe Traurigkeit darüber, anders geworden zu sein als andere, allein geblieben und mit Widerstand gegen Nähe und Zärtlichkeit, ist berührend. Alles das ist bewusst und immer wieder neu erlitten. A wird die Liebe zu B nicht leben können, deutlich gezeigt durch Aufschreien und Flüstern:

Aber ich kann nicht ohne Menschen sein!

Das Spiel von A ist Seelenleib-Spiel. Seele durchdringt Bewegungen, Gebärden und Worte. Da kommt Überraumzeitliches in den Raum. Solche Momente nennt das Nô-Theater, das Aufgehen der Blüte. Wir nennen sie Traumgesicht.

Ecce homo
Sehet, welch ein Mensch!

B steht im Türrahmen. Fordernd, unsicher, männlich, liebend.
Er weiß um die Verletzungen von A, kennt ihr inneres Eingekehrt sein.
Will er sie befreien?
Wir wissen es nicht. Diese Szene haben wir nicht bis ins Letzte inszeniert, sie muss von sich aus geschehen dürfen.
A nestelt ununterbrochen an der Folie, die um ein Tablett gewickelt ist, tut es berührend verhaltensauffällig,  mit spielerischer Leichtigkeit zeigend. Eine künstlerische Leistung ist das. A zieht diese Qualität durch die ganze Szene, begleitet von dem klagenden Mantra:
Schon als kleines Kind haben sie mich alle geküsst, diese Mütter, Kinderfrauen, Schwestern, Freundinnen, Freunde, alle, alle haben sie mich immer geküsst.
Und Ekel, Schmach und Erniedrigung kommen noch stärker hervor, mit dem peinigenden Eingeständnis, ich kann doch nicht ohne Menschen sein.
A wendet sich an B: Sei ehrlich bitte. Nur mit einem Wort.
A sagt es angstvoll, aus der Bitte spricht die Qual, Wahrheit zu erfahren.
B antwortet bitter, doch voller Hoffnung, scheinbar geläutert durch die häufigen Zurückweisungen von A:

Ich ertrage deine Demütigungen und ich tröste dich. Ich habe mich verloren, aber ich war noch nie so sehr bei mir.

Glaubhaft ist WAS er sagt und WIE er es sagt. Als Person und als Figur. Die schwierige Beziehung zu A hat ihn gereift, so scheint es.
Die unterirdische Spannung nimmt zu.
A erwidert, von Abneigung gepackt:

Es ist widerlich, wie wir dastehen. Widerlich, so außerordentlich körperlich. So außerordentlich körperlich, auch wie Du mich zu beherrschen versuchst.

In diesen Worten, in dieser Mimik, im Umgang mit Folie und Tablett zeigt A Mischung aus Ekel und Anziehung, Lust und Scham. Der Raum ist erfüllt davon.
B: Du willst mich anders, als ich bin. Ich fühle das.
Wie aber soll er denn sein, dieser Mann? Er bemüht sich doch auf seine Weise zu verstehen. B nähert sich einem Verzweiflungsakt. Seine Erscheinung zeigt gefährliche Prägung.

A: Nein, ich habe immer Menschen verleitet, besser zu sein, als sie sind. Ich habe mich gequält. Und jetzt hasse ich alle. Alle! Alle!

A sagt diesen Satz oft, und von Mal zu Mal wirkt A so als sei sie / er überzeugt von der eigenen Güte.

B: Du bist schön, so schön.

Lächelnd sagt B das und meint es auch so. Und dann, den inneren Drehpunkt wechselnd, mit Verachtung:

Es gibt Kinder, die auf den Spielplätzen gemieden werden, weil sie so gut sind, so eins warst Du.

A: Schon als kleines Kind haben sie mich alle geküsst, diese Mütter, Kinderfrauen, Schwestern, Freundinnen, Freunde, widerlich, ich kann nicht mehr.

Die letzten Worte gehen unter im Schluchzen und wieder bricht es auf:

Ich kann nicht ohne Menschen sein! Wundert dich das? Wundert Dich das?

In B wächst Geilheit auf A. Er nähert sich lüstern. Schritt für Schritt zeigt er überzeugend seine Lust, A zu überwältigen:

Deine Schönheit hat so etwas unmerklich Animalisches, wofür Du Dich schämst. Du bist wunderbar – und so allein.

A körperlich ausweichend, trotzig, ironisch und selbstmitleidig:

Ich verstehe schon, ich darf nicht böse sein. Ich muss gut zu allen sein.

B: Deine Schönheit hat so etwas unmerklich Animalisches, wofür Du Dich schämst.

Er wiederholt seine Worte mit zittriger Stimme:

Du bist wunderbar – und so allein. Ich fühle Dich vielleicht wie etwas mir Verwandtes. Das fühle ich als ungeheuren Trost.

B sagt das hoffnungsvoll. Das Unmögliche wird vielleicht doch möglich? Er setzt sich ans Klavier und spielt eine zarte, verträumte Melodie.

A zeigt fesselndes, außerordentlich differenziertes Mienenspiel beim Horchen auf die Melodie. Furcht und Lust zeigen sich darin, nervöse Spannung für das, was gleich geschehen wird. A reagiert ausdrucksstark bis in die Zehengelenke. Alle Gelenke sind im Spiel. Seine Finger spielen mit der Folie und dem Tablett, zeigen die ständig wechselnden Gefühle zu B.
Abrupt hört B mit dem Klavierspiel auf und schaut A mit fast archaischem Ausdruck an. Die plötzliche Stille wirkt wie ein Donnerschlag. A sieht  nicht die Wut von B, sieht nicht, wie Sexualität ihn gepackt hat.

A sagt: Ich verstehe schon, ich darf nicht böse sein. Ich muss gut zu allen sein.
Immer wieder kommen diese Worte: Ich verstehe schon, ich verstehe schon, ich darf nicht böse sein…

Es ist tiefes Weinen darin, auch Ohnmacht, in diesem Dilemma, das A und B nicht zusammenkommen lässt.
Die Spannung steigt. A beugt seinen Oberkörper schützend über das Tablett mit der zerzausten Folie, die zuvor immer wieder zärtlich glatt gestreichelt wurde.
B beobachtet die Reaktionen von A.

A dreht sich nicht um.
B genießt den Anblick von A und genießt auch seine Erektion. Es sieht so aus als würde er dabei lustvoll auf dem Klavierhocker onanieren. Er zeigt sich entblößt, ohne seine Hose wirklich auszuziehen, zeigt er hechelnden Atem und lustverzerrte Mimik.
A bleibt still, weiterhin das Tablett mit der Folie schützend, als wären sie Symbole der Unschuld:
Es ist widerlich, so außerordentlich körperlich. So außerordentlich körperlich wie Du zu beherrschen versuchst.
B kann nun nicht mehr an sich halten, springt A von hinten an, zwingt seinen Oberkörper über die Tischplatte und zeigt, in A eindringen zu wollen.
A kann abwehren. Sein Tablett wird zum Schutzschild.
In dieser Tischszene wird von den Spielern jede einzelne Bewegung laut ausgezählt. Diese Interaktion geschieht im dialogischen Zug um Zug-Verfahren, alle Bewegungsabläufe werden sehr verlangsamt gezeigt.
Eine gestaltete Leistung. Die beiden Spieler integrieren kunstvoll Leidenschaft und Disziplin.

Das Spiel ist aus

B begreift schmerzlich enttäuscht, dass hier etwas zu Ende gegangen ist. In seinem Mann-Sein gekränkt, zusätzlich gedemütigt durch das höhnische Lachen von A.
B will raus aus diesem Raum, erreicht die Türe, bleibt im Türrahmen stehen.
A umgibt nun Stolz und Würde, sitzt am Tisch, am gleichen Platz und sagt unermüdlich:

Schon als kleines Kind haben sie mich alle geküsst, diese Mütter, Kinderfrauen, Schwestern, Freundinnen, Freunde, alle, alle haben sie mich geküsst, alle. Bah. Pfui, widerlich, alle haben sie mich immer geküsst.

A sagt das in allen Nuancen, flüsternd und schreiend, sich entschuldigend und anklagend, diesen seelischen Tatbestand annehmend, auch.

Ecce homo

B scheint aus der Ordnung gefallen. Er kommt aus dem Türrahmen an die Bühnenrampe. In der Haltung des gekreuzigten Christus‘. Sein Antlitz leidgeprägt, dennoch leicht lächelnd, niemals mehr, wenn das hier vorbei ist, Märtyrer sein. Hervorragend geführte Mimik.
A kann nicht anders als sich weiterhin zu schützen, seine Sehnsucht bleibt unverändert stark. Während der Ausdruck von B nur schwer zu ertragen ist, zeigt sich A wie eine Gestalt von altem Adel, seine nie verheilende Wunde zwar bedauernd und sich ekelnd und sich sehnend mit Contenance. Würdevoll sagt A seinen Satz so, als hätte er ihn zuvor nie gesprochen, erschüttert, sich entschuldigend auch:

Ich kann nicht ohne Menschen sein!

Und einmal hören wir ihn das Mark erschütternd, ehe seine Worte langsam und leise vergehen, und ebenso langsam und leise das Licht ausgeht auf der Bühne, noch ins Dunkle hinein erreichen uns die Worte:

Schon als kleines Kind haben sie mich alle geküsst, diese Mütter, Kinderfrauen, Schwestern, Freundinnen, Freunde, alle, alle haben mich geküsst, immer und immer wieder. Ich kann nicht ohne Menschen sein!

Es ist dunkel und still. Erst nach einer Weile wird geklatscht und einzelne Bravorufe erfreuen uns. Gabriela kommt auf die Bühne und überrascht uns mit Rosen.

Der Schluss. Rückmeldungen

Niemand ist hinausgelaufen während der Aufführung. Die Zuschauer verbleiben auf ihren Plätzen und schreiben wie vereinbart eine kurze Rückmeldung. Später bleiben viele Zuschauer noch eine Weile im Casino. Da höre ich Erstaunliches. Die ersten Worte:

Mich haben beide Szenen so gebannt, dass ich gerne noch länger zugeschaut hätte.

Tatsächlich erleben einige Zuschauer: Die Möglichkeit zur Wandlung, wenn sich aus dem Augenblick heraus, Wahrheit verkörpert. / Stimme und Wörter füllten mit seelisch geistiger Substanz. / Eine Zuschauerin meint:

…, dass die Transzendenz aber wohl nicht von allen wahrgenommen wurde, was schade wäre.

Andere Zuschauer und Zuschauerinnen erzählen oder schreiben uns später:

Was für eine Wohltat, die wenigen Worte, und die wenigen Handlungen. Ich habe sie nicht verstanden, aber alles wurde klar gezeigt.
Ich hatte Freude an den beiden großartigen Schauspielern und dem bunten Licht.
Dieses Kreisgehen fand ich langweilig. Den Schauspielern wurde damit Leid angetan, habe ich mir gedacht.
Mir ist viel eingefallen dabei, nämlich wie sehr man sich im Kreis gehen verlieren kann.
Vielleicht war es das, was gezeigt werden sollte, das Eingesperrt sein im Kreis, solange bis Befreiung passiert.
Ich gehe oft im Kreis und bleibe darin stecken.

Wie die beiden Schauspieler im Kreis gegangen sind; fand ich spannend, mit vielen Unterschieden haben sie das getan, im Ausdruck mit dem Körper und ihrer Stimme und die Mimik war erschreckend und oft auch voller Milde.
War gut, ich habe viel gelernt, wie wichtig doch der wechselnde Ausdruck ist.

Ich bin beeindruckt von der psychischen und physischen Leistung der Spieler.
Ich habe alles Gezeigte und Gehörte mit viel Emotion aufgenommen.
Das war eine Erfahrung; die ich bisher in keinem Theater erlebt habe.
Das ist für mich was ganz Neues, einem Theaterstück zuzuschauen, das fast ohne Handlung auskommt und nur surrealistische Textfetzen von sich gibt und mich vom Anfang bis zum Ende gepackt hat.
Zwei hochbegabte Schauspieler haben mich bis auf die Clownsszenen überrascht und überzeugt.
Die viele Zeit um sich die Hand zu reichen, sowas habe ich noch nie erlebt, ging ganz tief in mich hinein und das Wort Lebewohl war so endgültig, dass es mir weh getan hat.
Und ganz toll diese grüne Schärpe, die sich A um die Schultern gewickelt hat. In meiner Phantasie wurde sie zum vollständigen Abendkleid.
Habe die ganze Zeit, mit vielen Emotionen und mit Vergnügen vor allem B zugesehen.
Die zweite Szene war mir näher.
Die erste Szene habe ich nicht verstanden, die zweite Szene aber.
Großartig war die verkorkste Lady
Mir hat B aber leidgetan.

Noch ein letztes Wort

Unsere Aufführungen sind Ergebnisse von Experimenten. Sie entwickeln sich aus einem Arbeitsprozess. Er ist durch kein vorbereitetes Konzept festgelegt und abgesichert. Was die Spieler / Spielerinnen im Inneren bewegt und enthüllt, und dann zur Bühnenfigur wird, gestaltet sich aus der praktischen Bühnenarbeit. Theoretische Konzepte und Ideen gibt es nur äußerst sparsam, wenn überhaupt. Sie wirken sich schnell lähmend aus, auf die Spielimpulse.
Aktionen und Situationen werden individuell in einem schöpferischen Prozess entwickelt, wobei ständig nach dem Stimmigen gesucht wird. Daraus ergibt sich, dass der Charakter unseres Theaterlabors sich fortwährend ändert, in konsequenter Weiterentwicklung. Mit ihm selbstverständlich auch die Gestaltung unserer Projekte. Sie entziehen sich eindeutigen Definitionen und Kategorien, das betrifft auch die Spielweise und die Regie.
So, damit ist meine Erzählung zu unserem Projekt Wandlung21 zu Ende. Drei lange Folgen hat‘s gebraucht. Es hat mir Freude gemacht sie zu schreiben. Wenn sie Dir etwas gegeben haben, lasse es mich wissen. Ich freue mich darüber.
Was Dir vielleicht nicht gefallen hat, lass mich das auch wissen. Ich lerne daraus.

Herzlichen Dank im Voraus.
Hab eine gute Zeit.
Wolfgang K.
26.09. 2022
Alle Fotografien, Copyright Gianni Sarto.